Maja Göpel ist Transformationsforscherin, Nachhaltigkeits-Expertin und Gesellschaftswissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt transdisziplinäres Denken. Sie ist Honorarprofessorin an der Leuphana Universität in Lüneburg und derzeit eine der wichtigsten Stimmen, wenn es um die Frage geht, wie wir unsere Gesellschaft wieder zukunftsfähig machen. Sie beschäftigt sich in ihren Büchern „Unsere Welt neu denken“ (2020) und „Wir können auch anders“ (2022) mit Themen der Nachhaltigkeit und sozialen Gerechtigkeit und gilt seit deren Erfolg als eine der wichtigsten Vordenkerinnen für eine ökologisch-zentrierte Welt. Maja Göpel ist Allianz Foundation Fellow.
Esra Kücük ist Vorstand der Allianz Foundation. Sie beschäftigt sich mit den Zukunftsfragen einer Gesellschaft im Wandel und setzt sich für Themen wie kulturelle Teilhabe und soziale Gerechtigkeit in Zeiten der Transformation ein.
Esra Kücük: Als Allianz Foundation wollen wir die Lebensgrundlagen der nächsten Generationen verbessern. Da hat es mich nachdenklich gestimmt zu hören, dass Du auf der re:publica im vergangenen Jahr sagtest: „Wir leben jetzt in einer Ära, die nicht mit den letzten 10.000 Jahren vergleichbar ist“. Was meinst Du damit?
Maja Göpel: Die Idee einer neuen Ära kommt von den Geolog*innen. Die Erforschung der Erdschichten sagt viel darüber aus, wie die Erde früher aussah und welche Form von Leben sich quasi eingetragen hat in die Erdkruste. Geolog*innen prägten in diesem Kontext den Begriff des Anthropozäns. Anthropos kommt aus dem Altgriechischen, bedeutet Mensch, der aufrechte Mensch. Ich finde das ganz schön, weil man den Begriff aufrecht hier auch als Haltung auffassen kann. Das Anthropozän, unsere Ära, braucht eine aufrechte Haltung. Anthropozän, weil wir diejenigen sind, die jetzt diese Erdsysteme tatsächlich verändern: Wir machen Natur! Wir sind zur treibenden Kraft der Veränderung der Ökosysteme geworden. Gerade im 20. Jahrhundert sind wir sehr viele geworden und gleichzeitig greifen wir immer intensiver in die Erde ein. Das können wir messen am Pro-Kopf-Konsum, also wie viele Ressourcen pro Kopf oder wie viel Energie pro Kopf wir in Anspruch nehmen.
Esra Kücük: Es mangelt nicht am Wissen über das Problem, das damit einhergeht. Wir wissen, dass ein „Weiter so“ nicht geht. Wie kriegen wir die Transformation von Wissen zu einer Veränderung der Haltung, dem konkreten Handeln zu einem klimaneutralen Alltag hin?
Maja Göpel: Wenn wir uns die Reaktionen auf Berichte wie „Grenzen des Wachstums“ von 1972 anschauen, dann waren sie sehr abwehrend. In der damaligen Modellierung ging es darum, Trends zusammenzudenken: Wie viel Ressourcen nehmen wir aus dem Boden, wie viel Verschmutzung entsteht dadurch? Wie viel Nahrungsmittel können wir dann noch herstellen? Wie wird dadurch auch die Anzahl der Menschen wachsen? Der Bericht wollte zeigen, dass es wichtig ist, frühzeitig anders zu denken, also über erneuerbare Energien nachzudenken oder Landwirtschaft regenerativ auszurichten.
Die vorherrschende Erzählung, die kulturelle Verfasstheit, die Erfolgsgeschichte bis dahin war: wir können immer etwas Neues erfinden, wenn etwas begrenzt ist! Wenn irgendwelche Ressourcen knapp werden, werden die Preise steigen und dann denken wir uns was Neues aus. Optimierung, neue Technologien oder Effizienzsteigerungen waren die Lösungen. Aber Erdsysteme sind lebendige Netzwerke und keine Rohstoff-Baukästen. Wir können sie nicht einfach nach Belieben ab- und aufbauen.
Und wir haben viel zu wenig darüber nachgedacht, wieso wir trotzdem immer mehr brauchen - von allem. Und das sind dann die sogenannten Rebound-Effekte. Die Erfolgsgeschichte war: “Wir befrieden das Miteinander durch mehr. Es wird immer mehr entstehen und dann können auch alle was bekommen.“ In dieser Erzählung gelangt man nie an den Punkt, ernsthaft über die Verteilung eines Kuchens zu sprechen, er kann ja größer werden, wenn einer meckert. Und jetzt sind wir aus meiner Sicht zum ersten Mal an dem Punkt angekommen - global betrachtet und auch in den reichen Ländern -, an dem klar wird, dass die Zutaten für noch mehr Kuchen nicht ohne weiteres gegeben sind. Es ist wichtig, das ehrlich zu beschreiben, um die Frage des Zugriffs möglichst kooperativ anstatt konfrontativ zu beantworten.
Wie wahnsinnig abhängig wir heute zum Beispiel vom global vernetzten Warenstrom sind. Das haben uns die Pandemie und der Krieg gegen die Ukraine nochmal deutlich gezeigt. Und wie stark sich Konflikte um Zugriff auf Ressourcen und Warenströme aufbauen. Wir müssen überlegen: wie können wir die Versorgungssicherheit global viel besser organisieren? Indem wir regenerative Landwirtschaft betreiben und damit das ökologische Vermögen wieder aufbauen. Indem wir möglichst schnell von fossilen Energien ablassen und damit möglichst stabile klimatische Rahmenbedingungen erhalten. Indem wir tatsächlich neue Technologien entwickeln, die aber auch explizit auf diese Lösungswege zielen und nicht auf noch mehr Bequemlichkeit und Konsum für die Personen mit Kaufkraft. Wie können wir mit digitalen Instrumenten beispielsweise eine Kreislaufwirtschaft unterstützen, die den materiellen Bedarf von Volkswirtschaften auf einem sich langfristigen regenerierenden Niveau hält?
Selbst wenn das richtig unangenehm ist: erst durch die ehrliche Problembeschreibung können wir diese Lösungen finden. Wir drücken uns sehr um diesen ersten Schritt herum und erfinden dann lauter Lösungen, die kurzfristig Symptome mildern, aber nicht die Ursachen der Übernutzung ausräumen. Dabei ist es enorm wichtig, die soziale und ökologische Frage zusammenzudenken.
Esra Kücük: Aber können wir als Bürger*innen eigentlich überhaupt etwas ausrichten? Oder ist das nicht die Aufgabe der Industrie und Politik?
Maja Göpel: Ich glaube beides. Es wichtig zu überlegen, wer kann welche Knöpfe drücken. Und natürlich sind wir Bürger*innen auch als Konsument*innen unterwegs. Mit meinem Griff ins Regal oder meiner Nachfrage nach der Herkunft von Produkten oder meiner Geldanlage kann ich ja eine kulturelle Veränderung durchaus anschieben. Und damit verändern sich auch Narrative und Ideen darüber, was „normal“ ist. Die Sozialwissenschaften zeigen deutlich, dass die Vorstellung darüber, was meine Peer-Gruppe für wichtig und richtig hält, mein Verhalten oft mehr beeinflusst als meine isolierte Betrachtung des Themas.