ROSA: Feministische humanitäre Hilfe auf Rädern

An dieser Stelle schreibt für uns in den kommenden Monaten unsere Allianz Foundation Fellow Anuscheh Amir-Khalili. Sie berichtet über ihre Reisen im Rahmen des Fellowships und die Besuche bei ihren Partnerprojekten. Den Anfang macht sie mit einer Reflektion über den Einsatz von ROSA, einer selbstorganisierten NGO aus Deutschland, in Griechenland.

12. Februar 2025

A tent was built up for the refugees to seek shelter during the consultations with the ROSA coworkers

One of the ROSA tents © Anuscheh Amir-Khalili

“Auch wenn ihr euch weit weg von den Städten und jeglicher Hilfe fühlt, wollen wir euch sagen, dass ihr nicht allein seid! Vergesst nie, dass ihr trotz all der Schrecken, die ihr bis jetzt erlebt habt, die Kraft hattet, zu überleben und hier anzukommen. Wir glauben an euch. ”
Ein Booklet der NGO welcome2europe, verwendet von ROSA

Ein Text von unserer Fellow Anuscheh Amir-Khalili.

Es ist der Morgen nach dem 21. Dezember 2024. Viele Menschen mit zoroastrischen Wurzeln haben gerade die Yalda-Nacht* zelebriert: die Nacht, in der das Licht die Dunkelheit ablöst. Denn nach der Yalda-Nacht werden die Tage wieder länger. In dieser Zeit der Wintersonnenwende geht es um Licht, Liebe, Freundschaft, Freundlichkeit und Mitgefühl.  

Ich fahre mit dem Auto über Serpentinenstraßen durch den Nordwesten der griechischen Halbinsel Attika. Die Sonne scheint, der Himmel ist wolkenfrei. Durch halb geöffnete Fenster fliegt der Geruch von mediterranen Pflanzen und das Gurren und Zwitschern der Vögel an mir vorbei und als meine Blicke immer wieder das türkis schimmernde Meer streifen, denke ich: “Wow, ist das schön!”.

Dann besinne ich mich.

Das Mittelmeer.

Für so viele Menschen ein Friedhof ihrer Liebsten, ein Trauma auf dem Weg in die Hoffnung. Aus einem anderen Alptraum. Der ernüchterte Blick spült das Wissen wie eine Welle an die Oberfläche.  

Zu wissen, dass viele Frauen starke Verätzungen an den Beinen haben, weil sie stundenlang in den mit Benzin getränkten Booten sitzen mussten, ihre Kinder und Babys hochhaltend, um sie vor der ätzenden Plörre zu schützen.  

Zu wissen, dass diese Kinder in Zukunft beim Anblick von Gewässern, von ebendiesem türkis schimmerndem Mittelmeer erstarren werden, die Sinne geschärft von der gespeicherten Angst ihrer Mütter.  

Zu wissen und zu sehen, wie diese Kinder zittern und weinen, wenn sie sich nicht trauen, an den Wachen ihrer Containercamps vorbeizugehen.  

Zu wissen, dass sie im Winter, mit Gummischlappen und T-Shirt bekleidet, wegen der Kälte zittern.    

Aber bleiben wollen.    

Bei ROSA.    

Geschützte Räume für geflüchtete Frauen

ROSA ist eine selbstorganisierte NGO aus Aktivist*innen, die sich 2021 in Deutschland zusammengetan haben. Sie bieten an den isoliert gelegenen Geflüchtetencamps in Griechenland mobile Anlaufstellen für die Bewohnerinnen*. Sie sind rollende Saferspaces, eine Form von feministischer humanitärer Hilfe, die geschützte Räume dort schafft, wo akuter Bedarf besteht und die an die Umstände und Belastungen von Frauen auf der Flucht angepasst ist. An mehreren Tagen in der Woche fährt das ROSA-Team mit einem umgebauten LKW und einem zusätzlichen Transporter die abgelegenen Camps in Ritsona, Thiva, Malakasa und Oinofyta an.

Der LKW ist mit einem Raum für medizinische Beratungen und einer Teeküche ausgestattet. In dem Transporter, liebevoll die „Rosine“ genannt, sind zusätzlich große aufblasbare Zelte, Workshopmaterialien und Pavillons sowie eine Menge Spielzeug verstaut.

Ich begleite die Crewis, so die Selbstbezeichnung der Crew-Mitglieder, an mehreren Tagen und darf miterleben, warum die Kinder kommen, bevor es richtig losgeht und bleiben, bis alles längst wieder eingepackt und verstaut ist.

Weil sie hier Kinder sein dürfen. Sie dürfen Spielzeug ausprobieren, mit Malzeug experimentieren, Bälle kicken. Aber vor allem ist es ein Raum, in dem die Kinder, auch wenn sie mit Tusche oder beim Versteckspielen unter den vielen Decken zu versinken scheinen, Blicke zu ihren Müttern werfen und sehen können, wie sie hier wie Menschen behandelt werden. Hier hören sie endlich wieder liebe Worte, werden willkommen geheißen und nicht be- oder abgewertet.  

Quote: „Die Kinder kommen, bevor es richtig losgeht und bleiben, bis alle längst wieder verstaut ist.“ Anuscheh

Im Medispace - ein abgetrennter Raum im ROSA Truck - dürfen die Mütter sprechen. Und hier passiert neben dem vermeintlich unabdingbaren und unverhandelbaren Menschenrecht - dem Zugang zu medizinischer Grundversorgung - noch etwas: ihnen wird zugehört. Sie dürfen im geschützten Raum reden und werden ernst genommen. Die Aktivist*innen von ROSA wählen hier ihre Worte mit Bedacht, um nicht weitere Angst in den Frauen zu schüren, sondern ihren mitgebrachten Mut zu stärken. 

Five person are standing between a tent and a truck next to a refugee camp

Die Crewies von Rosa im Einsatz © Anuscheh Amir-Khalili

Solidarität in der Isolation

Im ROSA Truck liegt das mehrsprachige booklet „Information - for refugee women in mainland Greece“ der NGO „welcome2europe“ aus.  

Ich lese: 

„Auch wenn ihr euch weit weg von den Städten und jeglicher Hilfe fühlt, wollen wir euch sagen, dass ihr nicht allein seid! Vergesst nie, dass ihr trotz all der Schrecken, die ihr bis jetzt erlebt habt, die Kraft hattet, zu überleben und hier anzukommen. Wir glauben an euch.“  Booklet von Rosa (aus dem Englischen)

Ich sehe:  

Riesige Stacheldrahtzäune, die die Containercamps abschirmen, laute, stark befahrene Straßen davor, daneben, dahinter, jenseits urbaner Infrastruktur.

Das sind Orte, die in Vergessenheit geraten würden, wenn nicht Aktivist*innen wie die von ROSA es sich zur Aufgabe gemacht hätten, hier zu sein.  

Ich sehe die Leistung, die Care Arbeit, die ungefragt übernommen wird. Unbezahlt. Nein sogar draufgezahlt, weil die Kosten für An- und Abreise nach Griechenland und ihre Verpflegung von den Aktivist*innen selbst übernommen werden. Ich sehe junge Menschen, die sich auf den Weg machen, weil sie helfen, sich einbringen, an einer Welt festhalten wollen, die auf Werten wie Menschlichkeit und Solidarität basiert. Menschen, die ihr Zuhause freiwillig verlassen, um denen zu helfen, die ihres verlassen und fliehen mussten, aus dem einfachen Wunsch, zu überleben.

Wie Samiye (Name geändert), mit der ich mich länger unterhalte. Samiye kommt aus Kabul, Afghanistan, und ist mit ihrer fünfjährigen Tochter geflohen. Sie hatte vorher versucht, sich im Iran ein neues Leben aufzubauen; in dem Land, in dem afghanische Kinder keine Schule besuchen dürfen, in dem Demütigungen für Afghaninnen zum Alltag gehören. Sie blieb, bis die Verzweiflung so groß war, dass sie den langen Weg nach Europa auf sich nahm.  

Kabul. Tochter. Frau. Leben. Bildung. Steinigung.  

Europa, insbesondere auch Deutschland, trägt hierbei eine große Verantwortung.

Und die Frauen tragen eine große Last auf ihren Schultern und eine große Angst in ihren Herzen, die sie bewegt, ihr Leben zu riskieren und in ein Schlauchboot zu steigen: bei Nacht und Sturm Richtung Hoffnung.

A tent was built up for the refugees to seek shelter during the consultations with the ROSA coworkers

Zelte von ROSA im Einsatz © Anuscheh Amir-Khalili

Der Alltag bei ROSA: Räume fürs Menschsein öffnen

Bei ROSA kennen sich die Aktivist*innen, unter anderem Ärzt*innen, Hebammen, Handwerker*innen, anfangs nicht. Die meisten wechseln in einem Rhythmus von fünf bis zwölf Wochen. Sie kommen gemeinsam in einem rustikalen griechischen Haus unter, auf einem größeren Grundstück, umringt von Bergen und Feldern. Es bietet Platz zum Schlafen, Kochen und die Möglichkeit, draußen zu sitzen, zu essen und auch zu lachen. 
Der Ablauf für die Crewis ist bis aufs kleinste Detail durchgetaktet: Wer kümmert sich um was? Wann ist Check-in? Wann Aufbruch? Wer übernimmt welche Funktion? Gibt es in der Umgebung Feuer? Wetterwarnungen? Wer ist für welchen Aufbau und Abbau zuständig? Wer fährt welchen Transporter? Wer spricht mit den Wachen, mit der Polizei? Wer mit Männern? Wer heißt die Neuankommenden in den angefahrenen Camps willkommen? 

Die Planungsstruktur hilft, das Wichtigste zu fokussieren: Frauen und Kindern in einer außer Kontrolle geratenen Situation ein paar liebevolle Stunden zu schenken. Neben dem Zugang zur medizinischen Beratung erhalten die Frauen auch rechtliche Informationen. Ein Zugang, der so viel entscheiden kann in einem Land mit einer Bleibeperspektive für Geflüchtete von unter 0,1 Prozent.

Nachdem die Crewis den Tag an einem der angefahrenen Camps beenden, ist die Arbeit nicht vorbei: Es gilt, den Truck zu entladen und neu zu organisieren und die kommenden Tage vorzubereiten, sich mit den Crewis in Deutschland auszutauschen (wo es mittlerweile Lokalgruppen gibt) und zu reflektieren - bis spät in die Nacht hinein.

In der Wintersonnenwende der Yalda-Nacht sind die Gedanken der Menschen bei der Familie und den Verstorbenen. Man denkt an liebe Familienmitglieder, die nicht mehr bei einem sind. Und gleichzeitig symbolisiert die Nacht die Geburt des Lichts.  

Und es werden Pläne gemacht für das neue Jahr: “Solidarity with women on the move and all those standing with them and in memory of those who didn`t make it!” (Aus dem Booklet „Information - for refugee women in mainland Greece“)

*ein altiranisches Fest, das in der „längsten und dunkelsten Nacht des Jahres“ im Iran, Kurdistan, Aserbaidschan, Tadschikistan und Afghanistan gefeiert wird. 

Über Anuscheh Amir-Khalili: Feministische Netzwerke stärken

Unsere Fellow Anuscheh Amir-Khalili ist eine leidenschaftliche Anthropologin und Frauen*rechtlerin, die sich intensiv mit der Beziehung zwischen Menschen, Gemeinschaft und Natur auseinandersetzt. Auf der Suche nach heilsamen Alternativen zu patriarchalen Strukturen hat sie mit ihrer NGO Flamingo ein Netzwerk geschaffen, das geflüchteten Frauen* und Kindern geschützte Räume für Traumabewältigung und Entfaltung bietet. 

In den kommenden Monaten werden wir an dieser Stelle weitere Texte von Anuscheh veröffentlichen.

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