Es ist der Morgen nach dem 21. Dezember 2024. Viele Menschen mit zoroastrischen Wurzeln haben gerade die Yalda-Nacht* zelebriert: die Nacht, in der das Licht die Dunkelheit ablöst. Denn nach der Yalda-Nacht werden die Tage wieder länger. In dieser Zeit der Wintersonnenwende geht es um Licht, Liebe, Freundschaft, Freundlichkeit und Mitgefühl.
Ich fahre mit dem Auto über Serpentinenstraßen durch den Nordwesten der griechischen Halbinsel Attika. Die Sonne scheint, der Himmel ist wolkenfrei. Durch halb geöffnete Fenster fliegt der Geruch von mediterranen Pflanzen und das Gurren und Zwitschern der Vögel an mir vorbei und als meine Blicke immer wieder das türkis schimmernde Meer streifen, denke ich: “Wow, ist das schön!”.
Dann besinne ich mich.
Das Mittelmeer.
Für so viele Menschen ein Friedhof ihrer Liebsten, ein Trauma auf dem Weg in die Hoffnung. Aus einem anderen Alptraum. Der ernüchterte Blick spült das Wissen wie eine Welle an die Oberfläche.
Zu wissen, dass viele Frauen starke Verätzungen an den Beinen haben, weil sie stundenlang in den mit Benzin getränkten Booten sitzen mussten, ihre Kinder und Babys hochhaltend, um sie vor der ätzenden Plörre zu schützen.
Zu wissen, dass diese Kinder in Zukunft beim Anblick von Gewässern, von ebendiesem türkis schimmerndem Mittelmeer erstarren werden, die Sinne geschärft von der gespeicherten Angst ihrer Mütter.
Zu wissen und zu sehen, wie diese Kinder zittern und weinen, wenn sie sich nicht trauen, an den Wachen ihrer Containercamps vorbeizugehen.
Zu wissen, dass sie im Winter, mit Gummischlappen und T-Shirt bekleidet, wegen der Kälte zittern.
Aber bleiben wollen.
Bei ROSA.
Geschützte Räume für geflüchtete Frauen
ROSA ist eine selbstorganisierte NGO aus Aktivist*innen, die sich 2021 in Deutschland zusammengetan haben. Sie bieten an den isoliert gelegenen Geflüchtetencamps in Griechenland mobile Anlaufstellen für die Bewohnerinnen*. Sie sind rollende Saferspaces, eine Form von feministischer humanitärer Hilfe, die geschützte Räume dort schafft, wo akuter Bedarf besteht und die an die Umstände und Belastungen von Frauen auf der Flucht angepasst ist. An mehreren Tagen in der Woche fährt das ROSA-Team mit einem umgebauten LKW und einem zusätzlichen Transporter die abgelegenen Camps in Ritsona, Thiva, Malakasa und Oinofyta an.
Der LKW ist mit einem Raum für medizinische Beratungen und einer Teeküche ausgestattet. In dem Transporter, liebevoll die „Rosine“ genannt, sind zusätzlich große aufblasbare Zelte, Workshopmaterialien und Pavillons sowie eine Menge Spielzeug verstaut.
Ich begleite die Crewis, so die Selbstbezeichnung der Crew-Mitglieder, an mehreren Tagen und darf miterleben, warum die Kinder kommen, bevor es richtig losgeht und bleiben, bis alles längst wieder eingepackt und verstaut ist.
Weil sie hier Kinder sein dürfen. Sie dürfen Spielzeug ausprobieren, mit Malzeug experimentieren, Bälle kicken. Aber vor allem ist es ein Raum, in dem die Kinder, auch wenn sie mit Tusche oder beim Versteckspielen unter den vielen Decken zu versinken scheinen, Blicke zu ihren Müttern werfen und sehen können, wie sie hier wie Menschen behandelt werden. Hier hören sie endlich wieder liebe Worte, werden willkommen geheißen und nicht be- oder abgewertet.
Quote: „Die Kinder kommen, bevor es richtig losgeht und bleiben, bis alle längst wieder verstaut ist.“ Anuscheh
Im Medispace - ein abgetrennter Raum im ROSA Truck - dürfen die Mütter sprechen. Und hier passiert neben dem vermeintlich unabdingbaren und unverhandelbaren Menschenrecht - dem Zugang zu medizinischer Grundversorgung - noch etwas: ihnen wird zugehört. Sie dürfen im geschützten Raum reden und werden ernst genommen. Die Aktivist*innen von ROSA wählen hier ihre Worte mit Bedacht, um nicht weitere Angst in den Frauen zu schüren, sondern ihren mitgebrachten Mut zu stärken.