Vier Monate in Tarabya

„Selbst kleine Geschichten können große Dinge bewegen" - Lesen Sie einen Bericht von Özge Açıkkol und Güneş Savaş vom „Oda Projesi“ in Istanbul und der Berliner Künstlerin Nadin Reschke über ihre Erfahrungen mit dem deutsch-türkischen Koproduktions-Stipendium der Kulturakademie Tarabya in Istanbul.

Four women are sitting in a park on a blanket and are watching and learning while one of them is showing them how to spin.

Learning how to spin together © Münevver Göçmen

Projektbeschreibung

Kulturakademie Tarabya

Die türkisch-deutschen Koproduktions-Stipendien der Kulturakademie Tarabya Istanbul sind ein einzigartiges Residenzprogramm für Tandems von Künstler*innen und Kulturschaffenden aus der Türkei und Deutschland. Die Kulturakademie – malerisch gelegen auf dem Gelände der historischen Sommerresidenz des deutschen Botschafters in Tarabya, auf der europäischen Seite Istanbuls – wurde 2011 vom Deutschen Bundestag gegründet. Sie wird von der Deutschen Botschaft in Ankara betrieben, die kuratorische Verantwortung trägt das Goethe-Institut. 

Die türkisch-deutschen Koproduktionsstipendien werden in Kooperation mit der Allianz Foundation vergeben. Den Stipendiat*innen soll der Aufenthalt in Tarabya zur Inspiration und Weiterentwicklung ihrer Arbeit dienen.

“Selbst kleine Geschichten können große Dinge bewegen.”
Özge Açıkkol, Güneş Savaş und Nadin Reschke

Interview

Mit Özge Açıkkol und Güneş Savaş von „Oda Projesi“ in Istanbul und der Berliner Künstlerin Nadin Reschke über ihre Erfahrungen und Erkenntnisse während der viermonatigen Tandem-Residency in Tarabya. Oda Projesi und Nadin Reschke verbindet eine lange Geschichte der Zusammenarbeit und Freundschaft. Sie gehörten zur zweiten Generation der Stipendiat*innen der türkisch-deutschen Koproduktionsstipendien.


Was war Eure Erfahrung während der gemeinsamen Monate in Tarabya?

"Die Kulturakademie Tarabya war für uns ein geradezu idealer Ort, um intensiv an einem künstlerischen Projekt zu arbeiten. Außerhalb des geschäftigen Stadtzentrums gelegen, bot der Ort genug Konzentration, um sich auf ein Projekt in der Tiefe zu konzentrieren. Vier Monate kontinuierlicher Treffen und Diskussionen brachten uns näher zusammen, nachdem wir bereits zuvor einige Jahre an ähnlichen Themen, aber aus verschiedenen Regionen und Perspektiven heraus gearbeitet hatten. Wir entdeckten auch die Bedeutung von Tarabya als "Therapia", denn unser Atelier, gelegen inmitten der Gärten und Wälder der Kulturakademie, konfrontierte uns mit unserer eigenen Zerbrechlichkeit und Widerstandsfähigkeit. Die Kernfragen unseres Projekts drehten sich nicht spezifisch um Istanbul oder die Türkei, sondern betrachteten die Auswirkungen der Pandemie aus einer persönlichen/individuellen und gleichzeitig globalen Perspektive. Unsere Arbeit basiert auf den Konzepten von Mutterschaft, Schwesternschaft und Solidarität zwischen Frauen, und während unserer Zusammenarbeit in Tarabya konnten wir mütterliche Aktivitäten teilen und gemeinsam Schwesternschaft und Solidarität erfahren."

Euer Koproduktionsstipendium ist beendet – aber geht Eure Zusammenarbeit weiter? Habt Ihr Pläne für die Zukunft?

"Das Projekt "Words to spin dialogues around the pandemic – An ongoing research project", das wir mit Unterstützung der Allianz Foundation in Tarabya begonnen haben, steckt, wie der Name schon sagt, noch in den Kinderschuhen. Wir werden die Erfahrungen, die wir in unseren Workshops unter Beteiligung von 11 Frauen (Aylin, Burcu, Cemile, Dilek, Ebru, Esra, Gülay, İlkay, Melek, Reyhan, Zeynep) gesammelt haben, weiter neu gestalten, reflektieren und mit anderen teilen. Wir haben den Teil des Projekts, der bisher realisiert wurde, bereits auf Video dokumentiert. Wir haben vor, die Projektergebnisse in eine Publikation einzubringen, die wir verbreiten und mit anderen teilen, genau wie die Ringe, die ein ins Wasser geworfener Stein bildet. Wir sind immer noch im ersten Ring."

Wir verstehen unsere Zusammenarbeit nicht als projektbasiert, sondern als kontinuierlichen Prozess des gegenseitigen Lernens. Die Fragen, mit denen wir uns in unserem Projekt beschäftigt haben, sind Fragen, die wir uns in den letzten drei Jahren gestellt haben: Wie hat die Pandemie unseren Alltag fürsorglich verändert? Welche Strategien haben wir für den Umgang mit der Pandemie gefunden? Wie können wir uns unserer eigenen Zerbrechlichkeit stellen? Diese Fragen werden uns auch in den nächsten zwei Jahren beschäftigen; wir haben alle Diskussionen aus dem Projekt aufgezeichnet, damit sie als Material für die Arbeit in den kommenden Monaten dienen können. Und wir werden weiterhin damit experimentieren, wie wir feministische mütterliche Praktiken für die Stärkung von Frauen und den sozialen Wandel befragen können.

Ihr gemeinsames Kunstwerk "Words to spin" war eines der Ergebnisse eurer Residency. Was steckt dahinter?

"Wir wollten herausfinden, was uns begegnet, wenn wir unsere Erfahrungen mit der Pandemie in einem kollektiven Prozess mit allen Frauen und allen, die sich als Frau identifizieren, teilen. Die Pandemie hat als Katalysator der Zerbrechlichkeit gewirkt. Die Geschlechterrollen haben sich verschoben und wir erleben einen Rückschlag. Im Rahmen eines offenen Aufrufs haben wir unterschiedliche Frauen eingeladen, Fragen zu diskutieren zur Normalisierung nach der Pandemie, zur geteilten Pflege, zu Unterstützungs- und Solidaritätsmechanismen, nicht wahrgenommener Hausarbeit und neuen Strategien, die Frauen während der Pandemie gefunden haben.

Wir haben das Spinnen mit der Hand als uralte Textiltechnik eingeführt, um persönliche Erzählsituationen zu schaffen und mit Hilfe dieses Materials körperliche Sichtbarkeit zu schaffen. Angetrieben von dem Bedürfnis nach Sichtbarkeit in einer ansonsten patriarchalischen Gesellschaft, glauben wir an Empowerment und Transformation, die aus dem gegenseitigen Austausch persönlicher Erfahrungen resultieren. Für jede Zusammenkunft trafen wir Frauen uns in einem anderen Park in Istanbul und nahmen öffentliche Räume mit scheinbar alltäglichen Aktivitäten wie Picknicken, Reden und Spazierengehen in Besitz. Das Spinnen hat uns verbunden und uns geholfen, verschiedene feministische Zukunftsentwürfe zu imaginieren – ein Faden, der uns alle verbindet.

Im Video eines der fünf Workshops spürt man die Atmosphäre, die Tiefe der Gespräche und Beziehungen, die in den vier Monaten zwischen der Frauengruppe entstanden sind. Wir beendeten die Arbeit mit einem Satz, der aus unseren Diskussionen hervorging: Dokunmadan Hissetme ("Nicht fühlen, ohne zu berühren"). Es war der Vorschläge einer der Frauen, als wir versuchten, unsere Zusammenkünfte zusammenzufassen. Sie erklärte es so: “Wir sollten keine Vorurteile gegenüber Menschen haben, die wir nicht kennen”."

Was nehmt Ihr aus den Gesprächen mit den Frauen, die an Eurer Kunst beteiligt sind, mit? Was muss getan werden?

"Die Gespräche in der Gruppe waren zugleich sehr unterschiedlich und sehr ähnlich. Jede Frau hatte/hat natürlich ihre eigene Taktik für den Umgang mit der Pandemiesituation, aber die häufigste Herangehensweise war: die Verantwortung für ein Leben ist stärker war als jeder andere Akt. Obwohl die Teilnehmerinnen unterschiedliche soziale Hintergründe hatten, war dies der rote Faden in unseren Gesprächen.

Die vier Monate, in denen wir zusammengearbeitet haben, waren für uns wie eine Lupe. Sie hat uns geholfen, die Details besser zu sehen und zu verstehen, wieviel wir mit anderen Frauen gemeinsam haben. Aber es bleiben auch große offene Fragen, was getan werden muss, und unser Projekt gab uns nur die Zeit und den Raum, um die Probleme zu definieren, die durch die Pandemie aufgeworfen wurden. Um diese großen Fragen zu beantworten, müssen wir Frauen mehr Abstand zwischen uns und die Pandemie bringen. Es ist immer noch schwer, die nötige Distanz zu bekommen, um die Pandemiezeit von außen zu betrachten; wir befinden uns ja weiter in der Krise, in der alles so zerbrechlich ist und die Zukunft verschwommen erscheint.

Aber mit jedem Workshop und jedem Gespräch konnten wir ein Stück mehr aus diesem aufgezwungenen Raum herauskommen und ihn von außen betrachten, wie eine Übung, die uns half zu verstehen. Als Initiatorinnen des Projekts hatten wir nicht das Gefühl, einen Workshop oder ein Projekt zu leiten, sondern wir fühlten uns als Teil der Gruppe, fast gleichberechtigt, und haben viel Bewusstsein für unsere eigene individuelle Situation gewonnen. Im Moment wäre die beste Antwort auf die Frage, "was getan werden muss", dass wir unsere Geschichten überall und jederzeit einander erzählen. Denn die kleinen Geschichten können einen Schneeballeffekt erzeugen, sie können zu größeren Bewegungen und Veränderungen führen."

Sie gehören zur ersten Generation der Koproduktionsstipendiat*innen. Denken Sie, dass das Programm wichtig ist? Warum?

"Speziell für uns war es eine große Chance, die Zeit und den Raum, den das Koproduktionsstipendium in Tarabya bietet, zu nutzen, um wieder zusammenzuarbeiten und die Veränderungen in unseren Praktiken, Verhaltensweisen und Meinungen über die Zeit nachzuverfolgen.

Aber auch unabhängig von dieser spezifischen Situation finden wir die Art von Zusammengehörigkeit, die die Kulturakademie bietet, sehr wertvoll, gerade auch angesichts der aktuellen politischen Situation in der Türkei. Die künstlerische Szene in der Türkei wird seit dem Putschversuch 2016 immer weniger international. Der kulturelle Austausch zwischen Europa und der Türkei war ja in gewisser Weise eingefroren und viele Künstler*innen in der Türkei waren nicht in der Lage, mit ihren europäischen Kolleg*innen in ihrem eigenen Land zusammenzuarbeiten. Sie begannen zu spüren, dass sich aus politischen und wirtschaftlichen Gründen eine große Kluft zwischen den beiden Regionen auftat.

Schengen-Visen sind für Künstler*innen in der Türkei jeden Tag schwerer zu bekommen, daher ist das Koproduktionsstipendium sehr wichtig. Vor allem wegen des grundlegenden Ziels, zwei Künstler*innen (oder Gruppen) an einem Ort zusammenzubringen und Künstler*innen aus Deutschland die Möglichkeit zu geben, Istanbul, die Türkei und ihre Kunstszene zu erleben. Aber auch, um Künstler*innen aus der Türkei die Möglichkeit zu eröffnen, in ihrem eigenen Umfeld zu produzieren und mit Künstler*innen aus dem europäischen Kontext zusammenzuarbeiten."

Haben Sie Tipps oder Ratschläge für die nächste Generation von Stipendiat*innen und die Organisator*innen?

"Kunst hat schon immer viele verschiedene Sprachen und Sichtweisen einbezogen. Künstler*innen haben viele grundlegende menschliche Unterfangen wie Wissenschaft, Archivierung, erzählte Geschichte, Philosophie, Ökologie und Mathematik für ihre künstlerische Produktion instrumentalisiert. Wie John Berger sagte: "Wir widersetzen uns mit Kunst." Wir müssen dies ernst nehmen und weiterhin ein Bewusstsein für das Leben und alles, was gerade passiert, schaffen und annehmen, multiplizieren und teilen."

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Learning how to spin together © Münevver Göçmen

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Learning how to spin together © Münevver Göçmen

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Learning how to spin together © Münevver Göçmen

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Über die Stipendiatinnen

Oda Projesi

Im Jahr 2000 haben Özge Açıkkol, Güneş Savaş und Seçil Yersel "Oda Projesi" gegründet. Oda Projesi ist ein multidisziplinäres Künstlerinnenkollektiv in Istanbul. In ihrem gemeinnützigen, freien Raum organisierten sie Projekte, Versammlungen und Aktionen. Der Projektraum von Oda Projesi musste 2005 aufgrund der fortschreitenden Gentrifizierung in Istanbul geschlossen werden. Seitdem arbeitet das Kollektiv mobil, befasst sich aber weiterhin mit sozialen Fragen, Prekarität, Kulturarbeit sowie Elternschaft. Sie tun das auf verschiedene Arten und Weisen und über verschiedene Medien wie Radio, Bücher und Zeitungen. Mehr Informationen.

Güneş Savaş (left) and Özge Açıkkol, two members of Oda Projesi are portrayed

Güneş Savaş (left) and Özge Açıkkol, two members of Oda Projesi © private

A photo of Nadin Reschke.

Nadin Reschke © private

Nadin Reschke

Nadin Reschke, geboren 1975 in Bernburg an der Saale, lebt und arbeitet in Berlin. Sie studierte Kunst und Kunsttherapie in Wales und Dresden. In ihrer Arbeit beschäftigt sich Nadin Reschke mit sozialen Themen und arbeitet mit Menschen außerhalb der Kunstwelt zusammen. Sie initiiert den Dialog und schafft einen Rahmen für soziales Handeln. Reschkes Arbeiten wurden in zahlreichen internationalen Ausstellungen gezeigt und veröffentlicht. Mehr Informationen.

Tarabya: die historische Sommerresidenz

Die historische Sommerresidenz des deutschen Botschafters befindet sich im ehemaligen Kurort Tarabya, der heute zur Metropole Istanbul gehört. Das Anwesen war ein Geschenk des osmanischen Sultans Abdul Hamid II (1842-1918). Im Jahr 1880 schenkte er es dem Deutschen Reich. Das Anwesen hat daher bis heute den Status eines Botschaftsgeländes. Im vorderen Teil befinden sich zehn Gebäude, hauptsächlich im Stil türkischer Sommerhäuser (yali), und der deutsche Soldatenfriedhof. Die Kulturakademie ist in der ehemaligen Botschaftskanzlei untergebracht, wo sich fünf Künstler*innenwohnungen befinden. Zwei weitere Wohnungen und Ateliers wurden in der ehemaligen Kutschenremise eingerichtet. Mehr Informationen.

A beautiful pitoresque white coloured old builidng is pictured.

Cultural Academy Tarabya © Elif & Baris