Das Haus der traditionellen Medizin Ixchel

An dieser Stelle schreibt für uns unsere Allianz Foundation Fellow Anuscheh Amir-Khalili. Sie berichtet über ihre Reisen im Rahmen des Fellowships und die Besuche bei ihren Partnerprojekten. Ihre zweite Reise führte sie nach Mexiko in das Haus Ixchel - ein Ort der traditionellen Medizin und der Indigenen Weisheit.

26. März 2025

Two persons are sitting next to each other and are looking into the camera

Maestra Amparo and "Partera" Lita © Anuscheh Amir-Khalili

Ixchel ist in der Maya-Mythologie die Göttin der Fruchtbarkeit und steht für die Zyklen des Mondes, die Geburt, Schwangerschaft, Medizin, weibliches Handwerk und Krieg. Sie ist Namensgeberin der „Casa de Medicina Ixchel", dem Haus der traditionellen Medizin.

Es befindet sich in Chimalhuacán, außerhalb der Nordostgrenze von Mexiko-Stadt, an einer wenig befahrenen Straße. Das warmherzig begrünte Grundstück besteht aus kleinen einstöckigen Häusern, zwei Schwitzhütten aus Lehm (Temazcal), einer Küche, einem Wohnbereich, einer Heilkräuterapotheke, einem Unterrichtszimmer für angehende Hebammen sowie einem medizinischen Behandlungsraum.

Umgeben von Kakteen, Pflanzen, Äckern und dem heiligen Ahuehuete-Baum, der als Brücke zwischen der Unterwelt und der Erde gilt, wird hier das Wissen weitergegeben, das über Generationen hinweg von den Hebammen der Indigenen Gemeinschaften bewahrt wurde.

Hier erzählt mir Maestra Partera Amparo, die Gründerin des Hauses, ihre Geschichte. Die Geschichte, die mit ihrer verstorbenen Mutter Aida Araceli Soto Monzon beginnt.

Wie sie einst als junge Frau aus Chiapas als Arbeiterin in die Hauptstadt emigrieren musste. Wie sie unter gesundheitsschädlichen Bedingungen und unterbezahlt in einer Textilfabrik arbeitete. Der Lohn reichte gerade mal für eine kleine Unterkunft und etwas Essen.

Mitgebracht hatte sie auch ihr wertvolles Wissen über die Versorgung von Schwangeren sowie Säuglingen und Hilfe bei Frauenleiden. In der Heilung von gynäkologischen Beschwerden und in der Unterstützung von Geburten sah sie ihre Berufung.
So trotzte Aida Araceli Soto Monzon der Müdigkeit und der Herausforderung des ungewollten Neuanfangs und fing an - es waren die 80er - für Straßenmädchen in ihrer Nachbarschaft da zu sein. Sie half jungen Frauen, die ungewollt schwanger wurden, bei einer Abtreibung oder bot ihre Hilfe bei anderen weiblichen Problemen an. Sie war für Sexarbeiterinnen da, passte nachts auf deren Kinder auf, ging tagsüber in der Fabrik arbeiten, um nach der Lohnarbeit Mädchen und Frauen zu behandeln und zu heilen, die von der offiziellen Gesundheitsversorgung ausgeschlossen wurden.

Hier gebar sie auch Amparo, die von klein auf mitgenommen wurde und zusah, was ihre Mutter, eine Maestra Partera, eine Hebammen-Meisterin, täglich leistete. Das Wissen ihrer Mutter aufsaugend, zog Amparo als Lehrerin und Lernende durch das Land, lernte von den Mayas und kam schließlich nach fast zwanzig Jahren zurück nach Chimalhuacán, wo sie zusammen mit Mitstreiterinnen die Hebammenschule aufbaute, die 2018 ihre Tore öffnete.

Amparo is treating a person in the treatment room

Maestra Patera Amparo during a treatment © Anuscheh Amir-Khalili

Bildung als Waffe des Widerstands

Chimalhuacán ist ein Viertel, das in Folge des Kolonialismus von Armut und Kriminalität geprägt ist. Mit Unterstützung von Studierenden und Bauern, wurde hier die offene Schule für Kinder gegründet. Sie haben sich gegen die Armut und den Alkoholismus erhoben und nutzten Bildung als Mittel zur Selbstermächtigung.

Neben der offenen Schule für Kinder wurde die Hebammenschule gebaut. Amparo sieht sich als Hüterin des meist mündlich tradierten Wissens, das sie nun an die Hebammen weitergibt. Das Wissen auf diese unkommerzielle Art und Weise weiterzugeben, sagt Amparo, sei als Widerstand zu lesen, genau wie die Schule für die Kinder. Es ist eine Antwort auf den Kolonialismus, der die Sprache und das Wissen der Indigenen auslöschen wollte, jedoch nicht mächtig genug war, um dies zu tun. Das spirituelle Wissen der Parteras, der Indigenen Hebammen, lebt nun von Generation zu Generation weiter und flammt in der Schule der Hebammen in Chimalhuacán wieder auf.

In Amparos Hebammenschule haben die Auszubildenden zunächst 13 Monate Unterricht. Dann begleiten sie für drei Jahre eine Mentorin bei ihrer Arbeit. Nach vier Jahren und einem Monat trägt die frisch ausgebildete Hebamme die Verantwortung bei jeder Vorstellung zu erwähnen, von wem sie gelernt hat. Die Mentorin, auch liebevoll „abuela" (Großmutter) genannt, gerät durch diesen energetischen Austausch, in dem sie mit ihrem Namen genannt und geehrt wird, nicht in Vergessenheit. Zudem zeigt die namentliche Nennung der Abuela, dass es sich nicht um institutionelles, sondern um traditionelles Wissen handelt.

Das Patriarchat und der Kolonialismus

Neben der Kontrolle und Aneignung von Land durch Unterdrückung und Morde an der Indigenen Bevölkerung, haben die Kolonialmächte das Patriarchat als Waffe genutzt, um über die Körper der Frauen Besitz zu ergreifen und Kontrolle zu übernehmen. Sowohl in der Allgemeinmedizin als auch über frauenspezifische Bereiche wie Geburten, Abtreibungen und postnatale Versorgungen übernahmen Männer und ihre Institutionen das Sagen und entmündigten Frauen in Bezug auf ihre Körper. Belange vor, während und nach der Geburt, beim Wunsch schwanger zu werden oder eben auch beim Wunsch, eine ungewollte Schwangerschaft abzubrechen: alles Männersache. 

Fremdbestimmt. Kontrolliert. Institutionalisiert. 

Kaiserschnitte fast schon zum Standard gehörend.

Im Casa de Medicina Ixchel wird diese Kontrolle zurückgewiesen. Hier ist die Geburt ein heiliger Moment, begleitet von der Weisheit der weiblichen Vorfahren und unterstützt durch das Indigenen-Tuch, dem Rebozo, das bei der Geburt hilft.

Rebozo - das Werkzeug der Parteras

Der Rebozo wird nicht nur zum Tragen der Babys und Kleinkinder, sondern auch bei Geburten verwendet, um das Baby im Unterleib zu bewegen, wenn es sich beispielsweise in einer ungünstigen Geburtslage befindet. Mit einer speziellen Massagetechnik wird mit dem Rebozo an dem Bauch der werdenden Mutter gearbeitet - hin und her wird das Tuch bewegt, um 
Energien freizusetzen, die bei der Prozedur helfen, bis das Baby ideal liegt und gut für die Geburt vorbereitet ist.

Keine Maschinen, kein Druck, keine erzeugte Angst, kein Stress. Nur ein Tuch und unendlich wertvolles Wissen.

Während der Geburt, so erzählen Amparo und ihre Auszubildende Lita, sind die weiblichen Vorfahren anwesend: die der Gebärenden, die der Hebamme und die der Mentorin, von der die Hebamme lernen durfte. Dieser Prozess ist zutiefst spirituell.

In Ländern mit Kolonialgeschichte werden oft einzelne Techniken Indigener Zeremonien herausgepickt, ohne den spirituellen Gesamtkontext zu erfassen. Das angeeignete Wissen darüber hinaus teuer anzubieten bedeutet, es nur reichen Frauen zugänglich zu machen. Das ist nicht im Sinne der Indigenen Hebammen und nicht im Interesse der Schule von Amparo. Das Wissen soll inspirieren ohne einen kommerziellen Hintergedanken zu verfolgen. Denn das entspricht nicht den Wurzeln der Indigenen, kollektiven tiefen Spiritualität.

A Midwife i using a rebozo to massage the back of a person

The rebozo is used during a treatment © Anuscheh Amir Khalili

Die Hebammenschule 

Diesen Schatz des Wissens über traditionelle Medizin nicht zu verstecken, sondern zu schützen und in gute Hände weiterzugeben, das ist das Verständnis der Schule von Amparo. Die Schule hat keine bürokratischen Hürden und ist offen für alle, die sich berufen fühlen, diese Arbeit auszuführen. Neben den Mentorinnen gibt es auch ein Netzwerk von Hebammen, die regelmäßig eingeladen werden, um zu unterrichten.

Vier Generationen haben bereits hier ihre Ausbildung absolviert, die fünfte Generation, zu der Lita gehört, ist fast fertig. So sind in den letzten sieben Jahren mehr als 100 Hebammen mit dem traditionellen Wissen rund um die Geburt entlassen worden. Das Haus der Traditionellen Medizin Ixchel konnte bereits über 300 Geburten auf natürliche Art unterstützen und dabei die Mütter in ihrer eigenen Kraft bestärken.

Der Ort bietet neben der Ausbildung in einem so wertvollen Beruf vor allem jungen Frauen und Mädchen einen kostenlosen Zugang zu traditioneller Indigener medizinischer Grundversorgung und richtet sich besonders an Frauen, die von der offiziellen Gesundheitsversorgung ausgeschlossen sind.

Amparo und ihre Schülerinnen setzen die Arbeit zu Ehren ihrer Mutter fort.

In Gedenken an

Aida Araceli Soto Monzon.

Möge dein Wissen wie Samen überall wachsen, dein Name und deine Weisheit nie in Vergessenheit geraten.

Über Anuscheh Amir-Khalili

Unsere Fellow Anuscheh Amir-Khalili ist eine leidenschaftliche Anthropologin und Frauen*rechtlerin, die sich intensiv mit der Beziehung zwischen Menschen, Gemeinschaft und Natur auseinandersetzt. Auf der Suche nach heilsamen Alternativen zu patriarchalen Strukturen hat sie mit ihrer NGO Flamingo ein Netzwerk geschaffen, das geflüchteten Frauen* und Kindern geschützte Räume für Traumabewältigung und Entfaltung bietet.

In den kommenden Monaten werden wir an dieser Stelle weitere Texte von Anuscheh veröffentlichen.

Mehr über Anuscheh lesen Sie hier.

Anuscheh Amir Khalili sits at a table and is working with plants

Anuscheh Amir Khalili © Konrad Weinz