Konferenz des Mediendiensts Integration: „Tatsachen benennen gilt als Verrat“

Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten gibt es in der Berichterstattung über Flucht in Europa? Weshalb halten sich Erzählmuster über Flüchtlinge so hartnäckig und wie schafft man es, neue Geschichten zu erzählen? Diese Fragen behandelten die Teilnehmenden der MEDIENDIENST-Konferenz. Lesen Sie hier den Bericht.

People sitting around a table and are talking to each other and laughing.

MME's Europe-Conference participants in summer 2022 © Thomas Lobenwein

Projektbeschreibung

Mediendienst Integration

Der MEDIENDIENST INTEGRATION stellt unter anderem seit knapp zehn Jahren als Online-Plattform und Informationsdienst für Journalist*innen Zahlen, Fakten und Hintergründe zu den Themenfeldern Migration, Integration und Asyl in Deutschland und Europa zu Verfügung. Seit 2018 koordiniert er außerdem das Migration-Media-Europe-Netzwerk (MME). Das ist eine informelle Community von mehr als 30 Organisationen in 20 europäischen Ländern. Alle Netzwerkmitglieder setzen sich für eine sachliche, nuancierte und diverse Berichterstattung über Flucht und Migration ein. Die Allianz Foundation hat den Mediendienst bei der Ausrichtung der Europa Konferenz des MME-Netzwerks „Communicating Migration Challenges 2022: Prepare, Expect, Act“ am 15. & 16. November 2022 unterstützt. Mehr Informationen.

“Wenn wir Tatsachen benennen, gelten wir als Verräter”

Ein Bericht von der Europa-Konferenz des Mediendienstes Integration und des Netzwerkes Migration-Media-Europe 

Von Martha Otwinowski, Projektleitung & Workshops bei Mediendienst Integration.

Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten gibt es in der Medienberichterstattung über Flucht in Europa? Hat sich die europäische Willkommenskultur für ukrainische Flüchtlinge auf Schutzsuchende anderer Herkunftsregionen übertragen? Weshalb halten sich Erzählmuster über Flüchtlinge oft so hartnäckig und wie schafft man es, neue Migrations-Geschichten zu erzählen?
Zu diesen und weiteren Fragen organisierte der MEDIENDIENST INTEGRATION die zweitägige Konferenz: 'Communicating Migration Challenges 2022: Prepare, Expect, Act'. 

Insgesamt nahmen rund 50 Personen aus verschiedenen Ländern teil: aus Polen, Griechenland, der Slowakei, Frankreich, Tschechien, Bosnien und Herzegowina und Armenien. Vertreter*innen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OEZD) waren ebenso an dem interdisziplinären Austausch beteiligt wie Kommunikationsforscher*innen, Stiftungsvertreter*innen und Mitarbeitende humanitärer Hilfsorganisationen, beispielsweise der Caritas.

Polen: trotz Willkommenskultur für Ukrainer*innen findet kein Paradigmenwechsel statt

Seit Russlands Angriff auf die Ukraine nehmen vor allem Länder in Zentral- und Osteuropa viele Geflüchtete auf. Gab es deshalb einen Sinneswandel in Ländern wie zum Beispiel Polen und Ungarn, die sich seit 2015 gegen die Aufnahme von Flüchtlingen sperrten? Zwei Vertreter*innen der beiden größten Hilfsorganisationen beider Länder, Ocalenie Foundation und Hungarian Helsinki Foundation, teilten Ihre Einschätzungen mit den Teilnehmenden auf der Konferenz.

Kalina Czwarnóg, Vorständin und Leiterin für Kommunikation der Ocalenie Founda-tion, kritisierte Polens "schizophrenen Umgang" mit Geflüchteten: Ukrainer*innen an der polnischen Südostgrenze heiße man mit offenen Armen willkommen, während Menschen an der östlichen Grenze zu Belarus gewaltvoll zurückgewiesen würden. "Wenn wir als Hilfsorganisation auf die humanitäre Notlage an der belarusischen Grenze hinweisen, wirft uns die polnische Regierung vor, gegen die Landesinteressen zu sein […]. Allein bloße Tatsachen zu benennen, macht uns also zu Verräter*innen," so Kalina Czwarnóg.

Ungarn: Keine Kehrtwende der Flüchtlingspolitik 

Auch das Hungarian Helsinki Committee (HHC) in Budapest sieht sich einem Staat gegenüber, der Hilfsorganisationen für Flüchtlinge die Arbeit erschwert. Beispielsweise erließ die ungarische Regierung im Jahr 2018 ein Gesetz, das gemeinnützigen Organisationen verbietet, Informations-Materialien zu Flucht und Migration zu veröffentlichen, so Anikó Bakonyi. Sie ist Leiterin des Flüchtlingsprogramms des HHC. "Parallel dazu schaffte Ungarn sein nationales Asyl- und Flüchtlings-Aufnahmesystem quasi vollständig ab", sagt sie. Für Ukrainer*innen seien zwar die Grenzen geöffnet und sogar unmittelbar nach Kriegsbeginn ein Aufnahmeprogramm aktiviert worden. Dies sei aber keine Kehrtwende für die ungarischen Flüchtlingspolitik. Ohnehin nutzten viele Flüchtlinge aus der Ukraine das Land eher zur Durchreise in andere europäische Länder; dies belegen auch Zahlen im europaweiten Vergleich (Quelle).

Großbritannien: Der Mythos der Kontrolle über Staatsgrenzen

Für Asyl- und Flüchtlingspolitik spielen oft Narrative über kollektive Selbst- und Fremdwahrnehmung eine Rolle, die eine lange Vorgeschichte haben. Dies könne man beispielhaft an dem umstrittenen Abschiebe-Abkommen beobachten, mit dem Großbritannien abgelehnte Asylbewerber*innen nach Ruanda "auslagern" will, so Rob McNeil vom Oxford Migration Observatory. Hier schwinge der alte Mythos der vermeintlich unbezwingbaren Klippen von Dover mit. "Migration ist jedoch so alt und komplex wie die Menschheitsgeschichte. Die Annahme, dass man jemals vollständige Kontrolle über ein Gebiet hatte oder diese erreichen kann, ist unrealistisch." Initiativen, die auf derart tief verwurzelte Narrative Einfluss nehmen wollen, müssten sich auf einen langen Weg einstellen, so McNeil.

Slowakei und Tschechien: Unterschiedliche kollektive Bilder

Auch in Zentral- und Osteuropa spielen Bilder kollektiver Identität eine Rolle in Debatten über die Aufnahme Geflüchteter aus der Ukraine. Kristina Chmelar vom Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM) untersuchte parteipolitische Positionen zur Aufnahme von Geflüchteten in Tschechien und der Slowakei. Das Ergebnis: Für die christlich geprägte Slowakei galt die Tatsache, dass Ukrainer*innen Christen seien als ein Hauptargument für deren Aufnahme. Im eher atheistischen Tschechien hingegen habe Religion kaum eine Rolle gespielt. In der Slowakei rührte das Selbstverständnis als christliches Land vor allem daher, so Peter Ivanič vom slowakischen Arm der internationalen Hilfsorganisation People in Need, dass die Region jahrhundertelang unmittelbar an das osmanische Reich angrenzte. 

Spanien: Datenbanken als Goldgrube für neue Migrations-Geschichten

Wie also kann es gelingen, tradierte Erzählmuster zu durchbrechen und neue Geschichten über Migration zu erzählen, die zu einer informierten, öffentlichen Debatte beitragen? José Bautista vom gemeinnützigen Medienprojekt porCausa empfiehlt, open-source Datenbanken mit kreativen Fragen im Hinterkopf zu durchforsten. So gelang es porCausa, zum einen die "Gewinner" des EU-Grenzregimes zu entlarven - etwa spanische Konzerne, die an Abschiebungen verdienen. Zum anderen fand die Organisation heraus, dass ehemals "schrumpfende" spanische Dörfer von Migrant*innen neu belebt werden. Durch deren Zuzug konnte lokale Infrastruktur wie etwa Schulen erhalten bleiben. Das seien Geschichten, mit denen man auch bei konservativen Leser*innen gewinnen könne, so Bautista. 

Dieser Beitrag erschien erstmalig auf der Online-Plattform des Allianz Foundation Partners MEDIENDIENST INTEGRATION. Lesen Sie hier die vollständige Version.