Die Transformation des EU Ernährungssystems: Eine systemische Herausforderung

Gerechter Zugang zu gesunden Lebensmitteln, faire Arbeitsplätze entlang der Lebensmittelkette und eine nachhaltige Lebensmittelproduktion - das sind IDDRI's Ziele hin zu einer Transformation der EU-Ernährungssysteme. Die Allianz Foundation unterstützt das Agriculture and Food Policies Program des Think Tanks IDRRI.

20. April 2024

Watering Systems on fields full of crops

© Joel Dunn auf Unsplash

Projektbeschreibung

IDDRI

IDDRI ist ein unabhängiges politisches Forschungsinstitut und eine Plattform für den Dialog zwischen verschiedenen Interessengruppen. Das Institut erforscht Bedingungen und Instrumente, um nachhaltige Entwicklung in den Mittelpunkt der internationalen Beziehungen und der öffentlichen Politik zu stellen. Die Allianz Foundation unterstützt das Agriculture and Food Policies Program des Think Tanks IDDRI in seiner Arbeit für einen echten Wandel in der Europäischen Union.

“Es gibt keine Transformation der Lebensmittelsysteme ohne signifikante Änderungen in den Ernährungsgewohnheiten.”
Pierre-Marie Aubert, IDRRI Programm-Manager

 Warum muss das Lebensmittelsystem der EU reformiert werden? 

Pierre-Marie Aubert, Leiter des Agriculture and Food Policies Program von IDRRI, spricht im Interview mit der Allianz Foundation über Bedingungen und Wege zu nachhaltiger Landwirtschaft und Ernährung. 

Allianz Foundation: “Warum muss das Lebensmittelsystem der EU reformiert werden?”

Pierre-Marie Aubert: "Mit der Gründung der Europäischen Union und der Einführung der Gemeinsamen Agrarpolitik wurde die Grundlage für die Entwicklung eines sehr starken Agrarsektors in der EU geschaffen. Dadurch wurden Lebensmittel leicht verfügbar, die Preise für die Verbraucher*innen sanken, die Produktivität des Bodens stieg und die Einkommen der Landwirt*innen verbesserten sich.

Doch all dies hatte seinen Preis. Die "grüne Revolution" in der EU führte zu einer zunehmenden Abhängigkeit von externen Inputs (wie Düngemitteln, Pestiziden und antimikrobiellen Mitteln), einer massiven Bereinigung der Agrarlandschaften durch die Konzentration und Spezialisierung der Betriebe und einer starken Entwicklung des Viehsektors. Die Veränderungen haben dazu geführt, dass der Agrar- und Lebensmittelsektor zu den Hauptverursachern des Verlusts der biologischen Vielfalt in der EU gehört. Zugleich ist er für mehr als 11% aller Treibhausgasemissionen in der EU verantwortlich - und diese Emissionen steigen seit 2015 immer weiter an.

Auf der Nachfrageseite haben die enormen Veränderungen im Angebot massive Veränderungen in der Ernährungsweise ausgelöst oder diese zumindest stark beeinflusst: mehr tierische Produkte, mehr verarbeitete Lebensmittel, mehr Zucker und Fett und paradoxerweise weniger - zumindest relativ weniger - Obst und Gemüse. Infolge dieser Ernährungsumstellung leiden über 55% der EU-Bevölkerung an Übergewicht (darunter sind fast 20 % fettleibige Menschen) - und das, obwohl fast 10% der EU-Bevölkerung nicht einmal jeden zweiten Tag drei Mahlzeiten zu sich nehmen kann."

Allianz Foundation: “Welche Auswirkungen hätte die nachhaltige Umgestaltung des Systems auf die Landnutzung und die Nahrungsmittelproduktion innerhalb und außerhalb Europas?”

Pierre-Marie Aubert: "Vor allem muss der Wandel als ein wirklich systemischer Wandel angegangen werden, der die Angebots- und Nachfrageseite einbezieht und der durch umfassende institutionelle Veränderungen vorangetrieben wird - wie wir es z. B. in unserem TYFA Scenario dargelegt haben.

Auf der Angebotsseite betreffen die Veränderungen eine stärkere Diversifizierung der Flächennutzung durch vielfältigere und längere Fruchtfolgen und die Entwicklung agrarökologischer Infrastrukturen (wie Hecken, Teiche, extensives Grünland usw.). Dies würde mit einer starken Verringerung des Einsatzes von synthetischen Düngestoffen einhergehen, bis hin zum völligen Verzicht. Der Natur muss mehr Raum gegeben werden. Eine Steigerung der Produktion von Hülsenfrüchten, Obst und Gemüse sowie verschiedenen Arten von Nüssen wäre ebenfalls erforderlich, um den Ernährungsbedarf zu decken.

Die Tierhaltungssysteme würden sich weiterentwickeln, um das Wohlergehen der Tiere zu verbessern und gleichzeitig die Futtermittelkonkurrenz so weit wie möglich einzuschränken, indem auf Grünland, Weideland, verschiedene Arten von Speiseresten oder Lebensmittelabfällen zurückgegriffen wird. Gleichzeitig müssen wir eine höhere Futtermitteleffizienz anstreben. Dies würde eine starke Verringerung der Zahl der gehaltenen Tiere und folglich eine erhebliche Reduktion der Nahrungsmittelproduktion aus tierischen Quellen selbst bedeuten.

Wenn sie mit der richtigen Ernährungsumstellung einhergehen, würden diese Angebots-Veränderungen dazu beitragen, dass die Europäische Union stärker zur weltweiten Nahrungsmittelversorgung beitragen kann. Gleichzeitig würde die Landnutzung in der EU wieder umweltgerechter. Dies kann definitiv unter Berücksichtigung der sozialen Gerechtigkeit für Landwirt*innen und Verbraucher*innen erreicht werden."

Allianz Foundation: “Welche Rolle spielen die Verbraucher*innen und ihre Ernährungsgewohnheiten bei der erforderlichen Umstellung?”

Pierre-Marie Aubert: "Eine Umstellung des Lebensmittelsystems ist nur möglich, wenn sich die Ernährungsgewohnheiten deutlich verändern. Es muss mehr Platz für Obst und Gemüse (doppelt so viel wie heute) und für Eiweißpflanzen und Hülsenfrüchte (4 bis 10 Mal so viel wie heute) oder Nüsse geschaffen werden. Der Verzehr von Lebensmitteln tierischen Ursprungs muss reduziert werden (im Durchschnitt um die Hälfte).

Ernährung wird grundsätzlich stark als eine kulturelle Frage verstanden, daher gelten Debatten über Ernährungsumstellungen oft als kompliziert, ja sogar als "unmöglich", insbesondere in Ländern, in denen Essen eine wichtige soziale Bedeutung hat. Allerdings haben sich die Ernährungsgewohnheiten in den letzten zehn Jahren bereits erheblich verändert, und die Veränderungen, auf die wir uns hier beziehen, liegen in der gleichen Größenordnung wie die früheren. Und auf allen sozialen Ebenen - einschließlich der Haushalte mit niedrigerem Einkommen - besteht der Wunsch nach einer gesünderen, nachhaltigeren Ernährung."