“All Images Will Disappear One Day”
Eine Rückschau von Nino Klingler (Allianz Foundation Program Manager)
Großes zeigt sich manchmal im ganz Kleinen. Ein gigantisches Kunstwerk der Autostrada Biennale 2023 besteht aus dicken Linien in leuchtendem Gelb, Rot und Orange auf einer Betonbrache inmitten des ehemaligen Hauptquartiers der deutschen Nato-Truppen in Prizren, Kosovo. Das ukrainische Künstler:innenkollektiv Open Group hat im Maßstab 1:1 die Grundrisse dreier Kulturstätten aus Mariupol nachgezeichnet, die seit der russischen Invasion am 24. Februar 2022 zerstört wurden. Der andauernde Angriffskrieg in der Ukraine schreibt sich so ein in ein ehemaliges Militärgelände im Kosovo, wo vor einem knappe Vierteljahrhundert selbst noch Krieg herrschte. Ein kleines Detail an dieser auf den ersten Blick eher technischen Arbeit bewegt dabei besonders: An einer Stelle überschreiten die millimetergenau berechneten Linien das handballfeldgroße Betonrechteck. Das daneben wuchernde Gras flammt feuerrot. Eines der in Mariupol zerstörten Gebäude war größer als die verfügbare Fläche in Kosovo. Das Werk überschreitet die Bühne. Die Kunst ragt hinein ins Leben.
Dieses Detail steht quasi stellvertretend für das Ethos der Autostrada Biennale, eines der Allianz-Foundation Hubs: Hier geht es um Kunst, die herausdrängt aus Museen und Galerien und die den Kontakt sucht mit dem Leben, in all seinen Unwägbarkeiten. Dabei geht es einerseits um die Präsentation: viele Teile der Autostrada Biennale sind in öffentlichen und privaten Räumen zu sehen, an Wänden von Wohnhäusern, in Wohnungen, vor Baustellen und in Ruinen. Andererseits geht es auch darum, wie Kunst gemacht wird: Viele der ausgestellten Werke wurden mit einem Team motivierter junger Kosovar:innen vor Ort in den Werkstätten der Autostrada Biennale in einem ehemaligen NATO-Hangar hergestellt. Kunstschaffen und praktische Ausbildung in Holz-, Metall- und Textilarbeiten gehen so Hand in Hand.
Für die vierte Ausgabe haben die beiden Kuratorinnen Övül Ö. Durmuşoğlu und Joanna Warsza den Titel „All images will disappear, one day“ gewählt. Es geht um Vergänglichkeit, um Trauer, aber auch Wandel und um die Hoffnung, die aus Neuem erwachsen kann. Bilder, Texte, Erinnerungen: alles droht ständig zu verschwinden. Ganz besonders, wenn man sich aus den geschützten Räumen der Kulturstätten hinauswagt. Wahrscheinlich hätten sich auch die Kuratorinnen jedoch nicht ausmalen wollen, wie konkret und real ihr Konzept schnell werden würde. Drei der Werke der auf Textilarbeiten spezialisierten türkischen Künstlerin Gözde İlkin waren den Außenmauern von Privathäusern in Prizren installiert. Zuvor hatte İlkin lange mit den Bewohner:innen gesprochen, um gemeinsam Motive zu entwickeln, die sich aus deren Erinnerungen und Erlebnissen speisten. Doch am Tag der Eröffnung, morgens früh um fünf Uhr, wurde eine der Mauer von einem Abrissteam demoliert – und İlkins filigrane Stoffarbeit im Schutt begraben. Statt Kunst im öffentlichen Raum gab es nurmehr eine Brache zu sehen, aus der ein Bagger die Mauerreste schaufelte. Es war zugleich ein Bild des oft rabiat voranschreitenden Verschwindens der Altstadt von Prizren - und ein unverhofft wirkungsvolles Sinnbild des kuratorischen Konzepts der Biennale.
Auch auf Nachhaltigkeit wird bei der Autostrada Biennale großen Wert gelegt, auf langen Atem bei der Zusammenarbeit und organisch wachsende Netzwerke. Ein Beispiel dafür ist die gigantische Installation der ebenfalls aus der Türkei stammenden Künstlerin Hera Büyüktaşçıyan in einer ehemaligen Ziegelfabrik im Herzen der kosovarischen Hauptstadt Prishtinas: Die endlos scheinenden, wie Wasser fließenden blauen Stoffbahnen wurden wiederverwendet, zwei Jahre zuvor waren sie von der Zitadelle hoch über Prizren bis ins Tal ausgelegt gewesen.
Auch die Sonnenblumenfelder der weithin als Koryphäe der Land-Art angesehenen Agnes Denes blühen bereits zum zweiten Male – eines in Pristina und eines neben dem Autostrada Hangar, inmitten der sonst so grauen Betonflächen der ehemaligen NATO-Basis.
Das eindrücklichste Beispiel für den einzigartigen Gesamtansatz der Autostrada Biennale - einerseits nachhaltig zu arbeiten, dabei die Jugend in Workshops mit einzubeziehen und sensibel ins öffentliche Leben Kosovos hineinzuwirken - ist aber wahrscheinlich die Arbeit des international bekannten Künstlers Alban Muja. In seiner Heimatstadt Mitrovica installierte Muja die 1:1 Kopie eines verschollen gegangenen antifaschistischen Denkmals aus den 1970ern, als Kosovo noch Teil Jugoslawiens war. Eine kleinere Version des „Gleichheit, Arbeit und Bildung“ betitelten Monuments hatte Muja zwei Jahre zuvor in Prizren gezeigt; nach einer langen Kampagne mit Talkshow-Auftritten und politischen Initiativen wurde im Autostrada Hangar das Werk in Originalgröße nachgebaut und im Stadtzentrum Mitrovicas installiert – um nun permanent dort zu bleiben. Es ist ein wichtiges Zeichen in der heute in einen albanischen und einen serbischen Bereich geteilten Stadt, die kurz vor der Eröffnung der Biennale noch von Unruhen geschüttelt wurde.
Und wie sehr hier Kunst ins Leben hineinragt, konnte man beim Abschlusskonzert hoch oben auf dem Dach des Kulturzentrums 7arte mitverfolgen – denn Mitrovica ist auch für eine sehr junge, vitale Rockszene bekannt. Die Band Shrimps hatte als letzten Song den Klassiker „Zombie“ der irischen Cranberries gewählt. Jede:r im Publikum schien den vom Nordirland-Konflikt inspirierten Text auswendig zu kennen. Und so brüllten Jugendliche inmitten einer geteilten Stadt Wörter in den Nachthimmel, die fast dreißig Jahre zuvor, tausende Kilometer weit entfernt angesichts einer ganz anderen Teilung geschrieben worden waren, aber die bis heute nachhallen: „When the violence causes silence/We must be mistaken“. Die Autostrada Biennale zeigte so, wie mit Kunst Verbindungen gezogen werden können, über Generationen, Communities und Grenzen hinweg. Seien wir gespannt auf die fünfte Ausgabe!