Nach einer Theaterevakuierung kehrte das Publikum geschlossen zurück: Kultur in Kiew

Reflektionen unserer Kollegin Hannah Brennhäußer

30. Dezember 2025

Bild: Oleksandr Meleshko

Die kulturelle Nachfrage in der ukrainischen Hauptstadt ist unübersehbar: Aufführungen beim nationalen Theaterfestival GRA waren ausverkauft, neue Buchhandlungen eröffnen und die Kunstszene blüht.

Doch neben diesen lebendigen Eindrücken nehme ich auch die Erschöpfung schlafloser Nächte mit, das Heulen der Luftschutzsirenen und das unablässige Brummen von Generatoren. Der Krieg prägt nicht nur Kiews visuelle Landschaft, sondern auch seine Klangwelt.

Am meisten bewegt haben mich die Kulturschaffenden, die ich getroffen habe. Sie schaffen, spielen und bewahren Hoffnung unter außergewöhnlichen Umständen. Ihr Mut verdient höchste Anerkennung. Beim Theaterfestival hörte ich eine Geschichte, die mich nicht loslässt: Während eines Luftalarms wurde ein Theater evakuiert. Als die Gefahr vorüber war, kehrte jeder einzelne Zuschauer zurück.

Alternative Text missing

Die Nachfrage nach Kultur ist ungebrochen. Selbst im Krieg suchen die Menschen in Kiew nach Theater, Büchern und Hoffnung.

Alternative Text missing

Fragmente von Raketen werden zu Musikinstrumenten oder Kunstinstallationen. Künstler verstehen ihre Arbeit als Teil der Dekolonisierung und des Widerstands gegen das russische Regime.

Alternative Text missing

Der Bedarf an internationalem Dialog ist enorm – ebenso wie die Angst vor einer ‚kulturellen Isolation‘ nach mehr als drei Jahren umfassendem Krieg.

Angst vor kultureller Isolation

Vom 24. bis 29. November reiste ich auf Einladung der ukrainischen Organisation Insha Osvita nach Kyjiw und schloss mich einer Gruppe internationaler Kulturschaffender an. Das Programm bot tiefe Einblicke in die aktuelle Kulturlandschaft der Ukraine und schuf Raum für den Austausch mit lokalen Kolleg*innen – eine Verbindung, die dringend gebraucht wird.

Viele Kreative, wie Olha Donik, Mitbegründerin von Dim Aktora in Saporischschja, fürchten eine „kulturelle Isolation“ nach mehr als dreieinhalb Jahren Krieg. Internationaler Dialog findet oft einseitig statt, wenn ukrainische Kunstschaffende ins Ausland reisen können. Doch das ist nur einer kleinen Gruppe möglich: Männer dürfen das Land in der Regel nicht verlassen oder benötigen Sondergenehmigungen für kurze Reisen. Diese Einschränkungen begrenzen die Chancen auf Zusammenarbeit und spiegeln die Vielfalt der ukrainischen Kulturszene international kaum wider.

“Bis 2022 war ich in der zeitgenössischen Kulturszene aktiv und arbeitete viel in der EU, da es in der Ukraine keine strukturelle Unterstützung für Kunst gibt. Zu Beginn der Invasion war es für mich praktisch unmöglich, mich mit Kunst zu beschäftigen. Alle Gedanken waren vom Krieg bestimmt. Das ändert sich allmählich, aber noch immer widme ich den Großteil meiner Zeit der ukrainischen Verteidigung.”
Larysa Venediktova, Mentorin beim Artaud Fellowship

Was bedeutet es, in Kriegszeiten kreativ zu sein?

In Kiew sind die Spuren des Krieges überall sichtbar. Das ehemalige Institut für Automatisierung, heute Heimat von 50–60 Ateliers, wurde bereits zweimal bei nächtlichen Angriffen getroffen. Kunstschaffende arbeiten ohne Fenster und leben in ständiger Angst, ihre Werke zu verlieren. Viele sind zur Armee gegangen, ein spürbarer Verlust für die Kulturlandschaft.
 

Der Krieg ist nicht nur sichtbar, durch Raketeneinschläge und Mahnmale, sondern auch hörbar. Regelmäßige nächtliche Luftschutzsirenen fordern ihren Tribut von Publikum und Künstler*innen. Am nächsten Tag die Energie für eine zweistündige Theateraufführung zu finden, ist eine außergewöhnliche Leistung.

Systematische russische Angriffe auf die ukrainische Energieinfrastruktur führen zu häufigen Stromausfällen. Ganze Stadtviertel liegen im Dunkeln und das ständige Brummen von Generatoren ist längst Teil der städtischen Geräuschkulisse geworden.

Alternative Text missing
“Das Thema Krieg ist hier zum beherrschenden Motiv in der Kunstszene geworden. Andere Themen wirken fast irrelevant und leer. Ich persönlich versuche, in meiner künstlerischen Praxis nach anderen Inhalten zu suchen. Es fällt mir zunehmend schwer, von früh bis spät (und manchmal nachts während Beschuss) mental in der lokalen Realität zu bleiben. Für mich ist Kunst derzeit eher eine Insel der Entfremdung. Oft habe ich vor dem Schlafengehen schnelle Skizzen gemacht, um zur Ruhe zu kommen.”
Valeria Tarasenko, Künstlerin und Mitbegründerin von atelienormalno, dem sich Kulturschaffende mit und ohne Down-Syndrom angeschlossen haben
Alternative Text missing

Eine unübersehbare Nachfrage nach Kultur

Und doch: Die Kulturszene der Ukraine blüht. Sie experimentiert mit neuen Formen und Techniken und die Menschen wollen diese sehen. Künstler*innen reagieren schnell auf die Realitäten des Krieges: Raketentrümmer werden zu Musikinstrumenten oder Kunstinstallationen. Musiktheater thematisiert Krieg und globale Umweltzerstörung durch experimentelle, multidimensionale Erzählungen (wie „GAIA-24. Opera del Mondo“ von Opera Aperta). Theatermacher*innen wie Olena Apchel, die derzeit in den Streitkräften der Ukraine dient, sehen ihre Kunst als Beitrag zur Dekolonisierung und zum Widerstand gegen das russische Regime. Nur wenige Tage nach unserem Besuch feierte das „Theatre of Veterans“, eine Initiative für Kriegsveteran*innen, seine neueste Premiere. Wir hatten das Glück, eine Probe mitzuerleben.

Im dritten Jahr der russischen Großinvasion weigert sich das kulturelle Leben der Ukraine, stillzustehen. Es leistet Widerstand, passt sich an und schafft Bedeutung. Wie es die ehemalige Allianz-Foundation-Fellow und Kuratorin Alona Karavai ausdrückte: „Kunst kann uns nicht retten. Wir arbeiten solidarisch und es gibt viel Energie. Aber lasst uns das nicht romantisieren. Nach dem Krieg wird es langweilig. Ich hätte mir ein langweiligeres Leben gewünscht.“